Wo du Bücher findest …

… da lass dich ruhig nieder!

Wie im unteren Artikel bereits erwähnt, stöbere ich sehr gerne und oft in Buchhandlungen nach Lektüren. Meistens erst etwas ziellos; je nach Inspiration, Gutdünken und Tageslaune. Jedes Mal entdecke ich Neues, Unbekanntes, oder wie heute etwas für mich sehr Unglaubliches!

Aus einer Reihe, fest eingepferchter Bücher zupfe ich mit etwas Mühe, zwei ganz dünne Märchenbüchlein raus. Fasziniert betrachte ich, beim einen Buch, die wunderschön gestaltete Frontseite. Der Titel „Die drei Bären“ kommt mir irgendwie bekannt vor. Nichts weiter denkend blättere ich im zweiten Exemplar mit dem Titel „Wie der Bauer die Gänse teilte“. Auch diese Bilder kenne ich doch von irgendwoher. Der Text gibt mir Gewissheit! Natürlich, bei meiner allerersten Freundin Tamaarutschka,  habe ich diese zwei Bildgeschichten (mit vielen anderen) schon gesehen …

Tamaarutschka ist das jüngste Kind einer russischen Familie aus Lettland. Sie und ihre grosse Familie haben sich vor vielen Jahren hier in der Schweiz, just neben unserem Dreifamilienhaus* nieder gelassen. Tamaaruschka und ich haben miteinander laufen, sprechen und natürlich, dank Mamutschka sogar die Welt der russischen Kinderbücher kennen gelernt. Tamaarutschkas Mutter ist meistens nachmittags mit ihrer kränklichen Mutter im Wohnzimmer gesessen; Mamutschka in einem Schaukelstuhl, stets etwas melancholisch vor sich hin seufzend. Sie streichelt immer wieder ihre Mutter, die Babuschka, welche auf dem Sofa ihr Mittagsschläfchen hält. Wenn Tamaarutschka und ich etwas zu laut miteinander spielen, flüstert Mamutschka: „Och, och meine Täubchen! Bleibt leise, stört Babuschka nicht! Hörst du mein Schatz, mein liebstes Kind, Ribjunka?!“ Dann nach ein paar Seufzer schenkt sie für sich einen Tee ein, verdünnt mit heissem Wasser vom Samowar; und für uns Kinder gibt es einen warmen Sirup. Wenn wir ins Glas geblubbert oder sonst irgendwelchen Unsinn gemacht haben, wacht Babuschka auf und schüttelt vehement ihren silberweissen Lockenkopf. Mit hochklingender Stimme (hörte sich an, wie hundert Kanarienvögel beim Wettsingen) spricht sie auf uns Kinder ein. Mamuschka und meine Freundin antworten mit „Banjats, Banjats, Babuschka, dda, dda!“ Babuschka lehnt sich mit einem verärgerten Blick (der ganz alleine mir gegolten hat) zurück. Mamutschka reicht ihr einen Tee und hüllt sie fester in ihre Decke ein und summt dabei eine beruhigende Melodie.  Zu uns macht sie: „Psst, psst Sitschje!“ Dann holt Mamutschka ein Bilderbuch aus dem Schrank. Sie nimmt meine Freundin auf ihre Knie und ich darf mich neben sie setzen. Sie putzt uns zuerst die Hände gründlich mit einem feuchten Tuch und macht kurz mit jedem von uns noch ein: „Brlii Brlaa Brlutzschika“ und streift dabei erst über ihren Mund, dann über unseren. Wir Kinder kichern und Mamutschka strahlt uns an. Endlich breitet sie das Bilderbuch vor uns auf dem Tisch aus und beginnt auf russisch vorzulesen und die Bilder zu erklären. Tamaarutschka übersetzt mir den Text ins Schweizerdeutsch und zeigt dabei auf die so lieblichen und einfachen Bilder. Die Mamutschka kontrolliert die Uebersetzung. Sie fragt uns immer wieder halb auf russisch, halb auf hochdeutsch: „Habt ihr das verstanden ihr Vögelchen? Du mein Täubchen, mein Mädchen, moi sevutschka?“ Ja, wir haben diese wunderschöne Geschichte sehr gut begriffen: ich natürlich nur dank meiner allerliebsten Tamaarutschka!

So stehe ich also ganz versonnen in der grossen Buchhandlung mit „meinen zwei Märchenalben“. Zum Erstaunen bemerke ich, dass ursprünglich Leo N. Tolstoi diese zwei Geschichten geschrieben hat. In meinen Händen halte ich natürlich die deutsche Fassungen davon. Nachgefragt bei der Buchhändlerin erfahre ich, dass Tolstoi, so ab 1857 viele Kindergeschichten geschrieben habe. Dies besonders, weil er sich über die damalige Art von Schulunterricht entsetzt hat. Er hat dann viele Geschichten speziell für den Schulunterricht geschrieben und von seiner Frau x-Mal abschreiben und illustrieren lassen. Gleichzeitig habe er die damaligen Schulen neu reformiert. Seine Märchen und Geschichten seien so verfasst worden, dass die Kinder mit Freude und Spannung Lesen und Rechnen lernten. Ausserdem lernten die Schulkinder dabei auch noch einiges darüber, was ein Kind machen darf, oder besser unterlassen sollte. Ausserdem lernten sie spielerisch korrekteres Auftreten und mehr Gewissenhaftigkeit im Lernen und in ihrer Hygiene. Nebenbei lernten auch ihre Eltern und Lehrer ganz beiläufig, einen besseren Umgang untereinander und mit ihren Kindern; ebenso eine gerechtere und altersentsprechende Art im Begleiten und Erziehen von Kindern.

Die Geschichte „Die drei Bären“ bringt den Schulkindern nebst dem Lesen auch die Zahl  „Eins“, „Zwei“ und „Drei“ näher. Die Erzählung beginnt mit der kleinen Anna, die draussen, in der winterlichen Landschaft, mit zwei anderen Kindern spielt. Plötzlich hat Anna das Bedürfnis alleine in den verschneiten Wald zu laufen. Dort entdeckt sie ein Blockhaus. Die Türe ist geöffnet und Anna tritt in ein einfaches blitzsauberes Esszimmer. Niemand ist da. Ein Tisch ist für drei Personen gedeckt. Auf dem Feuer wird eine feine Suppe warmgehalten. Anna hat Hunger und  setzt sich an den Tisch, auf den kleinsten Stuhl. Sie isst aus allen drei Gefässen von der warmen Suppe. Anna turnt auf den drei Stühlen etwas rum. Der kleinste Stuhl geht kaputt – zwei bleiben ganz. Anna guckt verlegen um sich. Sie entdeckt das Schlafzimmer mit drei ungleich grossen Betten. Erst legt sie sich in die grössern zwei Betten, und macht darin Unordnung.  Schliesslich schläft sie im dritten und kleinsten Bettchen ein. Anna weiss nicht, dass in diesem Haus drei Bären wohnen, ein Bärenpaar mit ihrm Bärenjungen Mischa. Die drei sind noch ausser Haus, auf einem Spaziergang. Als diese nach Hause kommen, entdeckt Mischa, dass sein Stühlchen kaputt ist. Auch seine Eltern wundern sich, dass aus ihren Suppenschüsseln gegessen worden ist. Mischa geht ins Schlafzimmer, entdeckt die zerwühlten Betten und in seinem kleinen Bett die schlafende Anna. Er vergisst seinen Kummer wegen dem kaputten Stuhl, setzt sich auf den Boden und freut sich darauf, dass Anna aufwache und mit ihm spielen werde. Die Eltern wecken mit ihrem Geplauder Anna auf. Diese sieht zuerst nur Mischa auf dem Boden und freut sich über dieses süsse Bärenkind. Dann sichtet sie die Bäreneltern und erschrickt über deren Grösse. Sie springt voller Angst aus dem Fenster ins Freie. Die Eltern eilen gemeinsam mit Mischa der kleinen Anna nach. Diese entwischt den Dreien in den Wald. Mischa ist traurig darüber und will nach ihr suchen. Die Eltern trösten ihn: „Lieber Mischa, sei nicht traurig. Eines Tages wirst du sie ganz bestimmt wieder treffen, und dann werdet ihr Freunde sein!“

Mit der Erzählung „Die drei Bären“, möchte Tolstoi einerseits auf die Zahl „drei“ hinweisen.  Andereseits klärt er die Kinder auf, dass man nicht einfach wegrennt und in fremde Häuser geht und dort erst noch Unordnung macht. Er vermittelt mit diesem Märchen, dass Nächstenliebe und Toleranz den Sinn für ein gutes Leben fördere, damit man, egal ob reich oder arm, gemeinsam in Frieden leben und arbeiten kann. Tolstoi zeigt auf, mit dem Schlusssatz der Bäreneltern, dass der starke Glaube an das Gute, die Kraft und Energie für ein befriedigendes Leben steigere; dass man immer wieder Freunde und Gleichgesinnte findet, wenn man das Leben des anderen respektiert, achtet und nicht überfordert. Dazu ein Kernsatz von Tolstoi:

Die Kraft des Gedankens ist unsichtbar wie der Same,

aus dem ein riesiger Baum erwächst.

^^^^^^^^^^^^^^^^^

Abschliesend möchte ich euch noch gerne einen Einblick geben, in das Märchen: „Wie der Bauer die Gänse teilte“, ebenfalls von Leo Tolstoi. Mit dieser Geschichte lernen die Kinder die Zahl „sechs“ kennen und wie sich diese aufteilen lässt:

Ein Bauer hat kein Korn mehr. Er geht zu seinem Gutsherr um welches zu kaufen. Als Geschenk bringt er diesem ein gebratenes Huhn mit. Der Gutsherr freut sich darüber. Leider weiss er nicht wie er die Gans stückgerecht auf seine Frau, auf seine zwei Töchter und seine zwei Söhnen aufteilen soll. Der Bauer besinnt sich nicht lange und schneidet mit seinem Messer der Gans den Kopf ab. Er überlässt diesen dem Gutsherrn, weil er das Oberhaupt sei. Für die Gutsherrin schneidet er das Hinterteil der Gans ab, weil diese ja immer zu Hause auf ihrem Hintern hocke. Für die zwei Söhne schneidet er je einen Fuss ab, weil sie ja eines Tages in die Fussstapfen ihres Vaters treten werden. Für die zwei Töchter schneidet er je einen Flügel ab, weil sie ja doch eines Tages „von zu Haus ausfliegen“ werden. Für sich nimmt der Bauer der Rest der Gans. Der Gutsherr überlässt ihm lachend den saftigen Rumpf und meint dazu, so ein schlauer Bauer müsse doch eine rechte Belohnung erhalten! Er schenkt ihm dazu auch noch das gewünschte Korn.

Ein anderer reicher Bauer hört davon und schenkt seinerseits dem Gutsherrn fünf gebratene Gänse. Doch der schenkende Bauer weiss sich keinen Rat, wie man diese fünf Gänse gerecht auf die sechs Gutsleute aufteilen könnte. Der Gutsherr ruft also dem ersten Bauer und der macht folgendes: Er überreicht eine Gans dem Gutsherrn und seiner Frau und sagt: „So jetzt seid ihr zu Dritt!“ Nun überreicht er den beiden Söhnen eine Gans und sagt: „Nun seid ihr auch zu Dritt!“ Dann überreicht er den zwei Töchtern eine Gans: „So jetzt seid ihr ebenfalls zu Dritt!“. Der schlaue Bauer nimmt die zwei restlichen Gänse und sagt: „Nun sind wir ebenso zu Dritt, ich selbst und die zwei Gänse!“ Der Gutsherr überlässt ihm die zwei Gänse. Lachend schenkt er dem Bauern obendrauf nochmals etwas vom Korn, da er der Meinung ist,  soviel Klugheit müsse doch belohnt werden. Tolstoi denkt sich dazu:

Materielles Glück erwirbt man sich immer nur auf Kosten anderer. Geistiges Glück immer durch Beglückung anderer.

So Punkt und Schluss für heute, sogar für morgen, vielleicht auch für übermorgen! Wir werden sehen. Gut Ding will Weile haben!

^^^^^^^^^^^^^


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert