In der Geschichte, „Schlafende Kinder retten Kaninchen“, schrieb ich unter anderem, dass in unserem Dreifamilienhaus auch noch die Familie Immerfroh lebte. Die hatten drei Kinder, alles Mädchen, aber viel, viel jünger als mein Roberto und ich.
Oskar und Rösly Immerfroh waren ein ganz unkompliziertes Ehepaar. Der Oski, arbeitete wie mein Vater in der Fabrik „Ewiggrau“, die genau gegenüber unserem Dreifamilienhaus stand. Meine Mutter bemerkte jeweils, wenn mein Vater wieder etwas all zu spät von der Arbeit heimkam: „He Fridolin, der Oski, arbeitet aber nicht so lange wie du für seinen Zahltag. Mein Vater antwortete dann jeweils prompt und kurz: „Der Oski muss nur seine Arbeit machen. Der hat nicht soviel Ahnung und Verantwortung wie ich! Und du hättest ja den soo braven Oski heiraten können…!“ Meine Mutter antwortete dann jeweils: „Was den Oski?“ „Natürlich den Oski, dann hättest du schon drei Kinder, ein viertes im Bauch und den Ehemann immer in deiner Nähe!“ Spätestens bei diesem Satz, reagierte meine Mutter wieder ganz friedlich und meint: „Jesses Gott, Fridolin, ja das fehlte noch, wie kann man auch… Ich bin mit unseren Zweien und mit dir ganz zufrieden!“ Mit diesen Worten war die Stimmung in unserem Haus wieder so ganz relaxend und friedlich.
Frau Immerfroh, mit ihrem stets dicken Bauch, ihren tiefroten Backen und strahlend blitzenden Zähnen, war für Roberto und mich einfach eine wackere herzensliebe Frau. Sie lachte immer und regte sich über nichts auf, auch nicht über ihre drei kleinen Kinder, die oft quengelten oder sonst unleidig waren. Auch die bevorstehende Geburt vom vierten Kind, konnte sie nicht aus der Ruhe bringen. Immer, wenn wir fragten: „Frau Immerfroh, wann kommt das Baby, ist es schon da?“ Schlägt sie die Hände zusammen und sagt: „Och ihr lieben Kleinen, der Oskar und ich haben euch schon tausendmal gesagt, dass wir euch rufen, wenn es soweit ist. Ihr dürft dann zusehen!“ Wir konnten uns gar nicht vorstellen, bei was wir zusehen sollten. Ein Baby kommt doch einfach. Es ist dann da und brüllt die ganze Zeit. So einfach ist das, oder?
Einmal wagte ich Frau Immerfroh zu fragen, woher denn das Baby komme. Sie antwortete mir:
„Eh, eee, Vreneli, das kommt von dort, wo es hineingekommen ist!“ Sie zeigte auf ihren dicken Bauch und lachte schallend! Schliesslich fragten Roberto und ich bei uns zu Hause, wie das mit dem Baby und dem dicken Bauch von unserer Nachbarin ist. Zuerst forschte Roberto bei seiner Nona nach. Diese bekreuzigte sich und machte ein perlico perlaco und zupfte meinen Roberto an den Haaren und rief: „Andare via, sei sempre stupido!“ Und fügt an: „Oh Mama Mia, che assurdità (welcher Unsinn)!“ Aehnlich tönte es bei meiner Mutter, als ich sie fragte, ob es stimme, dass die Babys dort rauskommen, wo sie hineingekommen sind. Sie stotterte: „Na Vreneli, woher hast du das? Sicher wieder dieser Roberto..!“
An einem Morgen weckte mich meine Mutter. Sie war ganz aufgeregt. „He, Vreneli, wach’ auf, das Baby kommt. Zieh dich rasch an. Ich hole unterdessen Roberto, dann gehen
wir zu Immerfroh’s rüber!“ Ich war selten so rasch angezogen. Schon standen wir beide in Immerfroh’s Wohnung. „Aber wenn die Kinder stören, bringen Sie mir diese nur wieder zurück!“, meinte sie zu Herrn Immerfroh. Dieser brummelte etwas und führte uns weiter in die Stube. „Na ihr beiden, kommt nur näher!“ Frau Immerfroh begrüsste uns wie jeden Tag mit Ihrem blitzenden Lachen. Sie lag auf ihrem komischen Kanapee, mit einem Leintuch zugedeckt. Ihr Bauch schien uns noch grösser als sonst. Oh je, die arme Frau, die platzte ja fast. Auch hatte sie ganz nasse Haare und plötzlich schnaufte sie drauf los und schaute mit ganz verkniffenem Gesicht an die Stubendecke. In diesem Moment kommt die Hebamme aus der Küche: „Rösly, oh schon wieder eine…!“, und zu uns sagte sie: „Kommt nur Kinder, nur keine Angst, es geht gleich los!“ Als Frau Immerfroh wieder ganz friedlich da lag, nahm ihr Mann ihre Hand und sagte: „Bald hast du es überstanden, mein Rösly!“, und zu uns: „Ihr habt aber keine Angst, oder?“ Vor was sollten wir Angst haben? Dennoch versteckte ich mich etwas hinter Roberto und beobachtete interessiert die Hebamme, wie sie viele weisse Tücher und einen Kübel Wasser zum Kanapee brachte. Sie hob das Leintuch etwas hoch und strahlt wie eine Marienkäfer: „Schaut, da ist das Köpfchen, es kommt!“ Was diese Hebamme noch alles sagte weiss ich nicht mehr. Auf jeden Fall, schrie Frau Immerfroh kurz und spitz auf – und schon schrie etwas ganz Seltsames. Es tönte wie „das Bääh“ von einem Schaf. „Rösly, wie schön, du hast es überstanden, gratuliere schon wieder ein Mädchen!“
Ich starrte, staunte und fragte mich „So ein „grusiges“ Ding?“ Roberto rief ganz vorlaut: „Das soll ein Baby sein?“ Die Hebamme strahlte: „Ja, Ja, seht nur, das schönste Kind, das je auf die Welt kam!“ Dabei legte sie das violette, weissliche schreiende Etwas auf den Bauch von Frau Immerfroh. Wie diese strahlte und dazu noch weinte – alles miteinander. Das Neugeborene wurde in warme Decken gehüllt und schliesslich lag es ganz friedlich und ruhig in den Armen der Frau Immerfroh. Ich fragte etwas unsicher, ob ich meine Mutter und den Bruder holen dürfte, damit man ihnen das Baby auch zeigen könnte. „Natürlich, die sollen nur kommen und schauen!“, rief der Oski ganz aufgeregt. Roberto und ich rannten aus der Stube zu uns in die Wohnung rüber: „Mami, das Baby ist da, ganz blau und schrumpelig, komm und schau!“ Meine Mutter nahm meinen Bruder auf den Arm und folgte uns rasch zur Familie Immerfroh.
Herr Immerfroh erwartete uns bereits unter seiner Eingangstüre. Er stoppte unser Ankommen etwas energisch: „Halt, bleibt stehen. Ihr könnt da im Moment nicht rein…!“ „Du Theresa, hör mal…!“, und er nahm meine Mutter flüsternd auf die Seite. Meine Mutter rief, auf uns schauend: „Oh Jesses Gott. Soll ich nicht doch den Fridolin benachrichtigen?“ Der Oski lehnte dankend ab. Was ist denn jetzt los? Mutter nahm uns bei der Hand und berichtete uns, es gehe der Frau Immerfroh, gar nicht so gut und wir sollten gemeinsam mit meinem Bruder zur Nona runter gehen. Diese soll auf uns aufpassen, denn sie müsse dem armen Rösly helfen… Wir rannten zur Nona runter und berichteten ihr aufgeregt vom Baby und dass die Frau Immerfroh wahrscheinlich sterbe. Die Nona: „Oh Madonna mia, che cosa fa?“ Meine Mutter rief zur Nona im italienischen Singsang: „Nein nein, la Signora wird nicht sterben, es gibt … Ach, passen Sie doch bitte auf die Kinder auf!“ Meine Mutter hastete wieder ins Gebärzimmer zurück. Roberto und mir passte die ganze Sache gar nicht. Wir quengelten etwas und die Nona schimpfte und schnupfte uns zusammen.
Später stand ich gedankenverloren am Küchenfenster und sah meinen Vater über die Strasse laufen. Ich riss das Fenster auf und rief: „Papi, das Baby ist da. Aber die Frau Immerfroh ist kompliziert. Mami geht helfen!“ Mein Vater macht eine Kehrtwendung und schon stürmt er zu uns ins Haus und verschwand in der Wohnung der Familie Immerfroh. Wir waren etwas beruhigt und getröstet, dass sich nun auch mein Vater um die Sache kümmerte, denn der wusste immer einen guten Rat. Meine Mutter sagte immer: „Nicht verzagen Fridolin fragen!“ – und – dies stimmte auch diesmal. Es ging gar nicht lange kam mein Vater zu uns runter und sprach Italienisch mit der Nona. Diese rief ganz aufgeregt: „Oh Mama mia!“ Sie riss uns Kinder in ihre Arme, küsste uns hundert Mal und tanzte mit uns durch die Küche. Mein Vater strahlte auch über alle Backen und nahm meinen kleinen Bruder auf den Arm. Er forderte die Nona und uns auf mit ihm zu kommen. Wir liefen die Treppe rauf und die Wohnung der Immerfroh’s.
Hier ist alles ganz still. Herr Immerfroh komplimentierte uns wortlos in seine gute Stube. Das Wohnzimmer sah noch so überfüllt aus, wie wir es verlassen hatten. Frau Immerfroh lag fest zugedeckt auf ihrer Liege mit dem kleinen Baby auf dem Arm. Andächtig gehen wir zu ihr ans Bett. „Jöh, wie herzig!“, flüsterte ich und Roberto ergänzte: „Hat Augen wie die Chinesen und etwas Falten wie die Nona!“ Die Männer lachten schallend und die Frau Immerfroh wischte sich schon wieder ein paar Tränen aus den Augen. „Wieso weinen Sie?“ Roberto grinste etwas verlegen. Da erklärte uns meine Mutter: „Schaut mal, dort auf den Tisch, da liegt noch ein Baby!“ Hmm, was? Die Hebamme wickelte tatsächlich noch ein verschrumpeltes Baby in ein wollenes Tuch. Herr Immerfroh nahm ihr das Bündel ab und legte dieses ebenfalls in die Arme seiner lieben Frau. „Ja, wie kommt denn das? Wann und wo ist denn dieses raus gekommen?“ Jetzt lachte das Mami Rösly laut auf und gluckste: „Ja, von da wo die kleine Marisa hergekommen ist. Uebrigens das zweite Baby heisst Helena.“ Roberto und ich blickten einander verwundert an, denn wir hatten beim ersten Mal vor Aufregung gar nicht richtig geguckt woher das Baby kam. „Also ihr seid mir schon Kinder, überall wollt ihr dabei sein, dann kapiert ihr doch nichts!“, sagte lachend meine Mutter. „Bis nur froh Theresa, dass unsere Kinder nicht so frühreife Dinger sind wie die… du weißt schon!“, sprach es und nahm uns alle in die Arme und bugsierte uns Kinder wieder in unsere Wohnung zurück. Die Grossfamilie Immerfroh musste sich etwas ausruhen.
Ausnahmsweise kochte mein Vater für uns alle und für die Nona einen feinen Znacht. Wir verbrachten miteinander noch einen vergnüglichen Abend. Als Roberto und ich ins Bett mussten, flüsterte mir Roberto ins Ohr: „Ich habe es genau gesehen, Marisa ist aus dem Bauchnabel gekommen, und da ist sicher auch die Helena rausgerutscht!“ Ich nickte und meinte: „Du hast recht, der Bauchnabel war so riesig und hoch und später habe ich den auch nicht mehr gesehen!“ Ob der Bauchnabel eine Babytüre ist?
^^
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